Entschleunigung und Geschwindigkeitsrausch

Ein Leben zwischen Natur und Motorrädern

von Ben Bürger

Ein schöner Tag. Die Sonne scheint, die Vögel zwitschern und der Duft von wildem Jasmin steigt mir in die Nase. Ich bin zuhause. Über neun Stunden war ich aus dem Haus, um meinen beruflichen Verpflichtungen nachzukommen. Jetzt ist Feierabend und ich freue mich darauf einen besinnlichen Ausklang zu haben. Meine Katzen begrüßen mich freudig in der Tür. Und während ich ihnen das Mal bereite, widme ich mich meinem Ausklangsritual. Ich koche mir einen Tee und greife aus meiner Auswahl an angefangen Büchern jenes, welches mich gerade anspricht.

Die Sonne scheint. Es ist wohlig warm und die Natur scheint bei bester Laune. Ich begebe mich auf die Terrasse und nehme Platz. Trinke einen Schluck Tee, widme mich kurz meinem Umfeld, erfreue mich an meinen Hühnern und schlage das Buch an der passenden Seite auf. Bis hierhin ist alles so gelaufen wie gewünscht.

Doch aus dem erhofften Genuss wird an solchen Tagen häufig nicht viel. Denn wie auch an diesem Nachmittag, beginnen die Motoradbegeisterten ihre Tour auf den Serpentinen des Essenerberges. Es sind viele und nicht alle fahren einfach nur durch. Die Strecke ist bekannt für steile Kurvenlage und Fahrspaß. Wer die nötige Risikobereitschaft mitbringt, will sich hier erproben oder mit seinen Kumpels messen. Und das am Besten, indem man rauf und runterfährt. Schneller, tiefer, wilder scheint manchmal die Maxime. Denn man will sich verbessern und die Knieschleifer haben auch ihre Daseinsberechtigung. Und was die Helmkamera nicht aufzeichnet, macht der Kollege vom Straßenrand.

Was für die ein Fahrspaß und Lebensfreude ist, ist für uns, die hier leben, häufig eine Qual. Der Lärm ist ohrenbetäubend und hallt an den Wänden des Gebirges wider, verstärkt sich und zwingt einen letztendlich zur Flucht. Ob ins Haus, oder zur Gänze an einen anderen Ort.

An den Wochenenden beginnen die Ersten, ihre Berg und Talfahrten schon in den kühleren Morgenstunden, da im Sommer die Hitze mittags oft zu groß ist. Da pausiert mann gerne und sammelt neue Kraft für die Nachmittagsstunden. Dann hat die Straße auch noch die nötige Temperatur und sorgt für guten Grip. Und wenn mann erst gegen Abend beginnt und bis zur Dämmerung fährt, hat man weniger Mitfahrer und kann die “leere” Straße nutzen.

Das bedeutet aber für uns nicht immer, dass mittags auch Ruhe einkehrt. Denn es gibt ja auch noch jene, die in Gruppen ihre Ausflüge machen und für den Ortsbesuch in Bad Essen oder ihre Ab- und Durchreise diese Route gewählt haben.

Was ich bisher schrieb, mag zunächst sehr anklagend und nach dem Gejammer eines genervten Anwohners klingen. So soll es aber gar nicht sein. Ich habe vollstes Verständnis für den Genuss am Motorradfahren. Für das Lebens- und Freiheitsgefühl, welches damit verbunden ist. Die Freude am Fahren und die bestehende Gemeinschaft. Auch verstehe ich die Wichtigkeit der durchreisenden Gruppen. Sie machen im Ort Pause, nutzen die dortige Gastronomie und bummeln in den Geschäften. Doch es beeinflusst mein Leben und das meiner Nachbarn an fast jedem sonnigen Tag.

Also was bedeutet diese Situation für uns in unserem konkreten Alltag?

An schönen Sommertagen ist es uns fast nicht möglich, unsere Gärten als Naherholung zu nutzen. Die erhoffte Entspannung und Regeneration bleiben aus. Besuch mag man gar nicht einladen. Und grillen sowie das Spielen der Kinder macht häufig auch keinen Spaß. Vom Sonntagsfrühstück in der Sonne ganz abgesehen.

Ich wohne so nah an dem Geschehen, dass ich, selbst wenn ich im Haus bleibe, die Fenster im Sommer kaum öffnen kann, da der Lärm widerhallt und es mir selbst dort unerträglich macht. Ich kann weder den Fernseher noch das Radio nutzen. Es sei den, ich stelle die Geräte so laut, dass mir die Lust daran vergeht.

In den Abendstunden liege ich häufig da und warte auf den Schlaf, der nicht kommt, weil noch die Letzten Runden gedreht werden. In den Sommermonaten zum Teil bis 22.30.

Ich lebe alleine. Daher betrifft es nur mich und vielleicht meine Kollegen*innen, wenn ich am nächsten Morgen etwas knatschig bin. Aber oft denke ich an meine Nachbarn mit Kindern. Was machen die, wenn die 6-jährige Tochter zeitig schlafen muss? Wenn es am nächsten Morgen wieder in die Schule geht? Wenn morgens um fünf der Wecker zur Arbeit ruft? Und was machen die Klinikgäste, die hier ihre Reha antreten und genesen wollen?

Was mich kürzlich erst besonders schockiert hat, war zu bemerken, wie ich mich dadurch menschlich verändert habe. Ich halte mich für einen hilfsbereiten Menschen. Doch vor einiger Zeit –  ich saß abends draußen und genoss die eingetretene Stille – sah ich, wie ein junger Mann in Trainigskleidung mit seinem Handy in der Hand aus dem Wald gerannt kam. Er lief in der Kurve hin und her, also frug ich ihn ob er etwas suche? Ob ich behilflich sein könne? Er verneinte und antwortete, er erwarte seinen Vater. In der ‘Langen Kurve’ hätte es einen Zusammenstoß mit einem PKW und einem Motorrad gegeben. Anstatt sofort zu fragen, ob alles in Ordnung sei und ich helfen kann, sagte ich völlig unaufgeregt: “Ach, schon wieder einer. Ist diese Woche schon der Dritte.”

Als ich den Blick des jungen Mannes sah, erschrak ich vor mir selbst, und die Scham darüber, wie abgebrüht ich reagiert habe, begleitet mich jetzt noch.

Natürlich habe ich postwendend meine Hilfe angeboten. Doch so sind auch häufig die Gespräche mit den Nachbarn:  “Gestern gab es wieder einen Unfall.” – -“Ja. Letztes Wochenende waren es auch zwei. Und letzte Woche sogar mit Krankenwangen.”

So bin ich nicht! Und so will ich nicht sein!

Wie kann nun eine Lösung aussehen? Hier steht das Wohl weniger der Freiheit vieler gegenüber. Ist das gerecht? Gibt es einen Konsens, der für beide Parteien vereinbar ist?

Wir kommen wieder in den Genuss unserer Gärten und der Erholung und die Motorradfahrer weiter zu ihrem Vergnügen?

Vielleicht wäre dies ein Anfang. Ich bin wieder sofort zur Stelle und helfe Euch auf die Füße, wenn Ihr fallt – und Ihr lasst den Schalldämpfer eingebaut. Und über das jährliche Bergrennenfestival mit Startnummer und Stoppuhr reden wir beim nächsten Mal.

P.s.: Um der Gerechtigkeit Genüge zu tun, sei noch gesagt, dass auch so manch hochmotoriesiertes Auto dem Vergnügen wegen den Berg hochgejubelt wird.